Thread – Arisierung – Gießen

Dieser Beitrag steht mit allen Grafiken und Screenshots im Archiv zur Verfügung

1) Es war der … April 1991 als sich die „Antifa-AG Arisierung“ (Gießen) mit dem Zeitzeugen Herrn K.B. traf.

2) An das Wetter und andere Umstände kann ich mich nicht mehr erinnern. Doch an den Moment als Herr B. aus dem Eingangsbereich des Kaufhaus Karstadt heraustrat, erinnere ich mich als wäre es gestern gewesen.

3) Ich erinnere mich wie der zierliche, und für mich damals als Jugendliche, sehr alte Mann mit kraftvoller Stimme mit uns sprach und mit uns eine Stadtführung unternahm.

4) Einige der nachfolgenden Informationen entstammen einem handschriftlich erstellten Protokoll.

5) Vor dem Modehaus Schneeberger blieb er stehen.
Das Modehaus Schneeberger schloss Mitte der 1990er Jahre seine Pforten [1] und in einem sentimentalen Zeitungsartikel aus dem Jahr 2010 ist die Rede davon,

6) dass das Modehaus vor dem Krieg gegründet worden sein soll. Doch Herr B. erzählte uns eine andere Geschichte. Vor der „Arisierung“ gehörte das Geschäft einem gewissen Salomon und war in der Marktstraße angesiedelt.

7) Das Modehaus Schneeberger zog von dort in den Seltersweg 75, der in den 1930iger Jahren noch so aussah – ohne das berüchtigte E-Klo –

Foto aus den 1930iger Jahren mit einem Blick in den Seltersweg.

Nochmal ein Foto vom Seltersweg. Dieses Mal aus einer anderen Perspektive.

8) Die Hausnummer 75 im Jahr 2015. Nichts mehr erinnerte an die „Arisierung“, an Salomon oder an das Modehaus Schneeberger.

Foto vom Seltersweg 75. Klassiszistische Hausfassade mit Ladengeschäft.

[2]

9) Herr B. erinnerte sich und damit auch uns an den Schuhhändler Süß, die Metzgerei Rothschild, den Schirmhahn am Marktplatz, (Abbildung Marktplatz mit Engelapotheke 1917)

Ein Foto vom Marktplatz Gießen mit Blick auf die Engelapotheke aus dem Jahr 1917. Zu sehen sind mehrere wunderschöne Hausfassaden und seitlich rechts ein großer Springbrunnen.

10) die Kaufhäuser Mayerfeld/Heilbronner und Elsoffer.

11) Alles wurde „arisiert“, d.h. musste von den jüdischen Eigentümer:innen zwangsverkauft werden oder wurde enteignet. [3]

12) Er führte uns auch zur Neuen Bäue 23, wo einst das Bankhaus Herz gewesen war.

13) Moritz Herz wurde nach dem Novemberpogrom 1938, bei dem auch die Räume des Bankhauses Herz geplündert und die beiden Gießener Synagogen zerstört worden waren, nach Buchenwald deportiert, kam frei und versuchte vergeblich seine Kinder im Ausland in Sicherheit zu bringen.

14) Am 30.09.1942 wurden Moritz Herz und seine beiden Kinder Lotte und Werner Guido Josef Herz mit zahlreichen anderen Gießener Jüd:innen nach Treblinka deportiert.

15) Stolpersteine erinnern an die Ermordeten der Familie Herz. [4]

Stolperstein von Lotte Herz

Stolperstein von Moritz Herz

Stolperstein von Werner Herz

[5]

16) Das Bankhaus Herz war in den Besitz des Deutschen Reiches übergegangen und das klassizistische Gebäude, in dem sich bei der Stadtbegehung 1991 das Speiselokal Burghof befand, hatte sich 1940 die Gestapo angeeignet und dort Quartier bezogen.

17) Im Keller gab es Verhör- und Gefängniszellen und den Folterkeller. [6]

18) Die verstorbene Gießener Antifaschistin Ria Deeg, die hier einsaß, berichtete später von mind. 3 Todesfällen. [7]

19) Aktuell ist in diesem denkmalgeschützten Gebäude ein Ristorante zu finden.

Ein Foto vom Gebäude

[8]

20) Auch über das Schuhhaus Darré (Foto aus 2018) wusste Herr B. zu berichten.

Ansicht auf das Schuhhaus Darré mit den zahlreichen Schaufenstern, die gut beleuchtet sind. Da das Foto bei Dunkelheit gemacht wurde, wirkt der Eingangsbereich durch die Beleuchtung mehr als beeindruckend.

21) Auf der Webseite des Schuhgeschäfts Darré steht lapidar von Übernahme, „nachdem die Berliner Familie Bottina durch die Wirren der aufkommenden Nazizeit ihr Unternehmen verkaufen und nach USA auswandern“ mussten.

„1933: Emmy und Edmund Darré, die jahrzehntelangen Geschäftsführer der Gießener Schuhhausfiliale Bottina, übernehmen die Filiale am Selterstor, nachdem die Berliner Familie Bottina durch die Wirren der aufkommenden Nazizeit ihr Unternehmen verkaufen und nach USA auswandern.“

Text: „1933: Emmy und Emund Darré, die jahrzehntelangen Geschäftsführer der Gießener Schuhhausfiliale Bottina, übernehmen die Filiale am Selterstor, nachdem die Berliner Familie Bottina durch die Wirren der aufkommenden Nazizeit ihr Unternehmen verkaufen und nach USA auswandern.“

"In den 30ern" Ein Foto von der Ansicht auf den Seltersweg. Seitlich rechts ist das Schuhhaus Darré zu sehen.

22) Kein Wort steht dort, dass es sich um eine Schuhkette gehandelt hat mit Standorten u.a. auch in Berlin.

23) Kein Wort steht da, dass das Gießener Schuhhaus durch „Arisierung“ in den Besitz des Reichsernährungsministers geraten war und dieser dann das Geschäft an seinen Cousin übergab, wie Herr B. uns erzählte.

24) 2008 feierte das Schuhhaus sein 75jähriges „Jubliäum“ mit einem „Jubiläumsausverkauf“. Das 85jährige „Jubiläum“ wurde 2018 dementsprechend mit Events gefeiert. Sogar Volker Vouffier gratulierte mit einer Videobotschaft.

25) Zu den Feierlichkeiten gehörte eine Veranstaltung in der Hermann-Hoffmann-Akademie in Gießen mit dem Titel: „Alt wie ein Wal – Frisch wie ein Fisch!

Siehe Text

26) und zusätzlich fand ein großes Konzert in der Kongresshalle mit dem Slogan „Sho(e/w) must go on!!! Die Darré Bühne – fast schon eine Gießener Institution!“ statt.

Siehe Text

27) Ein weiteres Geschäft/Unternehmen, dass sich stets seiner Erfolge brüstet, diese allerdings auf „Arisierung“ und damit auf Unrecht basieren, ist die Möbelstadt Sommerlad,

28) mittlerweile im Schiffenberger Weg angesiedelt und an weiteren zusätzlichen 4 Standorten außerhalb Gießens zu finden.

Screenshot von der Webseite der Firma Sommerlad mit den Fotos aus dem Jahr 1930 und Heute. In der Mitte ist das Foto von Sommerlad zu sehen, also dem Enkel von Rudolf Sommerlad (sen.)

[9]

29) In diesem Jahr (2020) feierte die Firma Sommerlad ihr 90jähriges Jubiläum. [10] Dass sie ihren Profit aus den „Verkäufen“ und Enteignungen der Nationalsozialisten, geschlagen hat, davon steht allerdings nirgendwo auch nur ein einziges Wort.

30) 1930 gründete Rudolf Sommerlad (sen.) in Beuern das Möbelgeschäft „Sommerlad“. 1932 zog er damit laut Herrn B. nach Gießen in die Walltorstraße, wo er einen kleinen Laden eröffnete.

31) Während seiner Militärzeit schickte Rudolf Sommerlad aus Holland monatlich die Möbel, die dann in seinem Geschäft verkauft wurden. Als kaufmännischen Angestellten hatte er einen gewissen Emil Simon mit goldenem Parteiabzeichen eingestellt.

32) Rudolf Sommerlad ließ sich ein Ehestanddarlehen genehmigen und mietete eine Wohnung in der Bahnhofstraße an. Dort wo sich 1991, am Tage des Treffens mit Herrn B., eine Videothek befunden hat.

33) Das Unternehmen Sommerlad schreibt über seine Geschichte folgendes:

„Die 30er Jahr

1930 gründete Rudolf Sommerlad sen., der Großvater des heutigen Geschäftsführers Frank Sommerlad, in Beuern im „Holländischen Hof“ das Möbelunternehmen Sommerlad. Die Möbel wurden selbst hergestellt und verkauft. Die junge Firma expandierte mit dem Kauf zweier Anwesen in der Bahnhofstraße und im Flutgraben. Dort wurde der Grundstein für eine über Jahrzehnte dauernde Tradition in Gießen gelegt.“ [11]

Bild vom Haus und Geschäft von Rudolf Sommerlad in Beuern.

[12]

34) Nach und nach gelangten Grundstücke und Gebäude in der Bahnhofstraße und im Flutgraben in den Besitz von Rudolf Sommerlad,

35) der u.a. am 27.03.1939 die 504 qm große Liegenschaft Bahnhofstr. 65 für nur 45.000 Reichsmark (das entspricht in etwa einer Summe von 10.000 Euro) von Leopold Mayer „erwarb“. [13]

36) Auch die Bahnhofstr. 63, wo der Herrenschneider Hardt einst sein Geschäft hatte, ging in den Besitz von Sommerlad über, wie Herr B. uns erzählte.

37) Hier im Bild die Möbelstadt Sommerlad 1980 im Flutgraben, anlässlich des 50 jährigen Bestehens.

Ein Foto von der Möbelstadt Sommerlad im Flutgraben. Quer über die Straße ist ein Transparent gespannt: „Sommerlad 1930 – 1980“. Auf den Parkplätzen stehen viele Autos in vielen Farben und auf dem Platz direkt vor dem Geschäft steht eine Hüpfburg. Bild wird fröhlich.

38) Über die Umstände des „Verkaufs“ der Bahnhofstr. 65 war nichts herauszufinden. Leopold Mayer, der Besitzer der Liegenschaft, wurde allerdings bereits 1931 mit einer „rückständigen Lagerplatzmiete“ belastet. (Screenshot Stadtarchiv Gießen)

Siehe Text.

39) Ob dies bereits ein Versuch war den jüdischen Besitzer unter „Verkaufs“druck zu setzen, konnte nicht verifiziert werden und so bleibt es bei Spekulationen.

40) Gießener Allgemeine Zeitung, um das Verschweigen und die Verstrickungen der Fa. Sommerlad zu thematisieren. Der Leserbrief wurde nie veröffentlicht,

41) stattdessen kanzelte der damalige Redaktionschef den Leserbriefschreiber ab. Der jetzige Firmenbesitzer Frank Sommerlad, der Enkel von Rudolf Sommerlad (sen.), habe mitgeteilt, dass das Grundstück bereits 1936 regulär erworben worden sei.

42) Der Vermerk aus den Akten und das Datum 1939 seien entstanden, weil der Großvater das Grundstück 2x hätte bezahlen müssen.
So wurde vom Enkel der Eindruck erweckt, der Großvater sei selbst ein Opfer der Nazis geworden.

43) Dieser zusätzliche Abschnitt stammt vom AK.69 aus Gießen. Nachzulesen hier: ak069.wordpress.com/2017/02/11/ariAK.69 schrieb dazu:

44/45)

„Solches Verhalten mit der eigenen Familiengeschichte ist nur allzutypisch für den Umgang mit den Taten der eigenen Großeltern. Somit bleibt für uns der Verdacht bestehen, dass es sich bei dem Grundstück aus der Bahnhofstr. 65 um ein unter Zwängen des nationalsozialistischen Terrors von Leopold Mayer verkauftes Eigentum handelt.“

46) Was aus Leopold Mayer geworden ist, ist unbekannt. Es gibt keinen Stolperstein, der an ihn erinnert. Gar nichts. Gerade so als habe er nie gelebt.

47) Ein Teil der Menschenmenge, die am 1.4.1933 die Besetzung jüdischer Geschäfte in Gießen durch SA-Posten mit großem Interesse verfolgte,

„Der „Gießener Anzeiger“ berichtete in seiner Ausgabe vom 2.4.1933 wie folgt: … Heute morgen pünktlich um 10 Uhr wurden die jüdischen Geschäfte unserer Stadt mit 1 bzw. 2 SA-Posten besetzt, die von den verschiedenen Standortlokalen aus nach den Geschäften beordert wurden. Eine große Menschenmenge verfolgte überall die Ereignisse mit großem Interesse. Eine Reihe jüdischer Geschäftsinhaber hatte heute morgen nicht geöffnet. Bisher kam es zu keinerlei Zwischenfällen. Die Besetzung der Geschäfte mit SA-Posten vollzog sich in aller Ruhe. In den Straßen herrschte starker Publikumsverkehr. …“

Text: „Der „Gießener Anzeiger“ berichtete in seiner Ausgabe vom 2.4.1933 wie folgt: ... Heute morgen pünktlich um 10 Uhr wurden die jüdischen Geschäfte unserer Stadt mit 1 bzw. 2 SA-Posten besetzt, die von den verschiedenen Standortlokalen aus nach den Geschäften beordert wurden. Eine große Menschenmenge verfolgte überall die Ereignisse mit großem Interesse. Eine Reihe jüdischer Geschäftsinhaber hatte heute morgen nicht geöffnet. Bisher kam es zu keinerlei Zwischenfällen. Die Besetzung der Geschäfte mit SA-Posten vollzog sich in aller Ruhe. In den Straßen herrschte starker Publikumsverkehr. ...“

48) und die „Arisierung“ miterlebt hat, hat die Novemberpogrome, den Holocaust und den 2. Weltkrieg überlebt, hat eine Familie gegründet und weitergelebt, geradeso als ob nie etwas geschehen wäre.

49) Hat geschwiegen und tabuisiert und die nachfolgenden Generationen geprägt, die ihrerseits offensichtlich nichts aber auch gar nichts dazu gelernt haben.

50) Außer der Leichtigkeit „Nie Wieder“ zu heucheln und dabei gleichzeitig den NSU, Hanau, Halle …, die Toten und Opfer von Nazis zu ignorieren, abzuwehren oder zu verharmlosen.

51) Darum
Kein Vergeben,
Kein Vergessen
und aktuell
Keine Nachsicht mit Täter:innen und deren Verharmloser:innen sowie Kein Verständnis für das gegenwärtig ohrenbetäubende Schweigen aus der Mitte dieser Gesellschaft.

52) In Erinnerung an die Opfer der Nazis
Damals und Heute
und
in persönlichem Gedenken an Ria Deeg und K.B.

Bild von der Gedenktafel des KZ Dachau mit der Inschrift „Nie Wieder“ in Jiddisch, Französisch, Englisch, Deutsch und Russisch als Teil des Internationalen Mahnmals.

[14]