[1] Teil 1: Allgemeine Überlegungen
[2] Teil 2: Frank Heinrich
[1] Teil 1: Allgemeine Überlegungen
Dieser Thread befasst sich mit Evangelikalen und christlichen Fundamentalist*innen und er beschäftigt sich schwerpunktmäßig anhand ausgewählter Beispiele mit ihrer Einflussnahme auf Politik und Gesellschaft.
Wie viele Evangelikale, christliche Fundis, Bibeltreue … es in Deutschland gibt, die Frage wird allerdings unbeantwortet bleiben.
2019 gehörten
22.600.000 der römisch-katholischen Kirche an,
20.713.000 der evangelischen Kirche,
1.543.000 waren Angehörige der orthodoxen Kirche,
396.000 gehörten zu den anderen christlichen Kirchen,
301.000 zu den evangelischen Freikirchen und
200.000 zu anderen christlichen Gemeinschaften. [1]
Wie viele davon also Bibeltreu sind oder dem Spektrum des christlichen Fundamentalismus zugeordnet werden können, diese Frage beantwortet die Statistik nicht.
Ebenso unüberschaubar ist die Bandbreite evangelikaler und christlich-fundamentaler Strömungen und Gruppierungen. [2]
Planet Wissen bezifferte die Anzahl der Anhänger*innen auf 1 bis 3 Prozent der Gesamtbevölkerung in D. [3]
Die Deutsche Evangelikale Bewegung schätzt die Anzahl von Evangelikalen auf weltweit 600 Millionen, „also knapp 10% der Weltbevölkerung“. [4] Sie unterschieden allerdings zwischen Pfingst-Evangelikalen, Allianz-Evangelikalen und Bekenntnis-Evangelikalen und schätzten deutschlandweit eine Gesamtzahl von 1 Million, die zu einer der drei Gruppierungen gehören plus 300.000 unabhängige Evangelikale. [5]
Es fehlen aber immer noch die christlich Fundamentalen und Klerikalfaschisten aus den Reihen des Opus Dei, der Piusbruderschaft … .
Wie gesagt, es gibt keine verlässlichen Zahlen. Denn üblicherweise werden Evangelikale und christliche Fundis in weiten Teilen der Gesellschaft entweder verharmlost, ignoriert oder belächelt und einfach nicht ernstgenommen, während diese negativen Einfluss auf Politik und Gesellschaft nehmen.
Der Einfluss auf die Gesellschaft zeigt sich z.B. in pädagogischen Angeboten für Kinder und Jugendliche (TeenSTAR, Weisses Kreuz, CVJM…), im Bereich Kitas und Schulen, hier wären die Schulen in freier Trägerschaft organisiert in VEBS (Verband Evangelischer Bekenntnisschulen) oder die Schulen des Opus Dei oder der Pius-Bruderschaft als Beispiel zu nennen, bei Sexarbeit und Schwangerschaftsabbruch, speziell bei der Gestaltung und Auslegung des Paragraphen 219a und was unter „Werbung“ subsumiert wird.
Nämlich eben auch Informationen über den notwendigen medizinischen Eingriff, entweder medikamentös oder chirurgisch. Denn das fällt unter „Werbung“.
Der Einfluss zeigt sich auch bei der Ablehnung der Forderung nach im Grundgesetz verankerten Kinderrechten.
Der Einfluss zeigt sich z.B. bei der Ausgestaltung der Richtlinien des Sexualkundeunterrichts in Schulen. Deshalb gibt es in Bayern auch seit 2016 einen gesetzlich geregelten „Aktionstag für das Leben“ also einen Anti-Abtreibungstag an bayerischen Schulen. [6]
Der Einfluss zeigt sich überall und das waren nur einige ausgesuchte Beispiele.
Zusätzlich gibt es z.B. evangelikale Interessenvertretungen für bestimmte Berufsgruppen.
Zum Beispiel:
– Christliche Polizeivereinigung,
– Christen im Gesundheitswesen,
– Kongress christlicher Führungskräfte,
– Christen in der Wirtschaft,
– Christliche Feuerwehrvereinigung,
– Vereinigung christlicher Friseure, ein Zusammenschluss von 200 Salons.
Also Waschen, Schneiden, Föhnen, Beten und möglicherweise auch mit Gesprächen über das Thema Schwangerschaftsabbruch wie beim Vorbild in den USA. [7] [8]
Für den Einfluss auf die Politik könnten folgende Beispiele aufgeführt werden, der Kongress christlicher Führungskräfte, das evangelikale Spektakel Deutschland Betet Gemeinsam, die Schirmherrschaft von Politiker*innen von evangelikalen Veranstaltungen
oder der Verein Perlenschatz e.V., der angibt eine Zufluchtsstätte für muslimische Mädchen und Frauen zu sein, mit den Bundestagsabgeordneten Michael Brand und Frank Heinrich, beide CDU, als Vereinsbotschafter. [11]
Frank Heinrich gehört zum Hauptvorstand der Evangelischen Allianz Deutschland (EAD), war 2020 Unterstützer von Deutschland Betet Gemeinsam und schrieb bereits mehrfach ein Grußwort für den Marsch für das Leben.
Sein Grußwort 2016 führte zu seiner Erwähnung im rechten Blog Philosophia Perennis. [12]
Heinrich ist aber auch Vorsitzender des Vereins „Gemeinsam gegen Menschenhandel“. Gegründet wurde der Verein von Gaby Wentland, die ebenfalls im Hauptvorstand der EAD vertreten ist.
Sie ist Vorsitzende des Vereins Mission Freedom e.V., der mit „Gemeinsam gegen Menschenhandel“ vernetzt ist.
Gaby Wentland ist in der Vergangenheit (2012) aufgefallen, weil sie z.B. mit „Lichtduschen“ mit „Jesu Licht“ die Verletzungen infolge sexualisierter Gewalt heilen will.
Sie ist u.a. auch im Oktober 2020 aufgefallen, weil sie gemeinsam mit Inka Hammond vom Gebetshaus Augsburg dazu aufgerufen hat, nicht negativ über Donald Trump zu sprechen. [13] Ihr Video mit dem „prophetischen Wort“ hat sie wenig später wieder gelöscht. [14]
Der Mitarbeiter von Frank Heinrich ist der Beauftragte der Evangelischen Allianz am Bundestag Uwe Heimowski von der EAD, der gemeinsam mit Gaby Wentland und Frank Heinrich zum Vorstand von „Gemeinsam gegen Menschenhandel“ gehört.
„Gemeinsam gegen Menschenhandel“ setzt sich gegen Sexarbeit ein. „Heinrich sieht eine dringende Notwendigkeit einer gesellschaftlichen Debatte über die Bezeichnung Deutschlands als das sogenannte „Bordell Europas“. [15]
Sein Interview mit dem Pro Medienmagazin, [16] neben idea ein weiteres Sprachrohr der EAD, auf das auf der Webseite von Gemeinsam Gegen Menschenhandel unter der Überschrift „Wollen wir weiterhin als ‚Bordell Europas‘ gelten?“ [17] hingewiesen und verlinkt wird, ist sehr interessant und
verdeutlicht wie er im übertragenen Sinn Äpfel, Birnen und Bananen miteinander vergleicht, vermengt und einen Brei daraus rührt.
Also aus Sexarbeit, Organhandel, Erntearbeit und Tätigkeiten in der Fleischverarbeitung.
Für Interessierte werde ich im 2. Teil das Interview mit dem Bundestagsabgeordneten der CDU einer kritischen Betrachtung unterziehen. Es wurde hier archiviert.
Für Desinteressierte ist der Thread und möglicherweise das Thema damit beendet.
[2] Teil 2: Frank Heinrich
Im Mittelpunkt steht das Interview mit dem evangelikalen Bundestagsabgeordneten Frank Heinrich (EAD und CDU) mit dem dem christlichen Medienmagazin Pro, [1] dem Sprachrohr der EAD.*Nachfolgend mit Pro abgekürzt.*
Der nachfolgende Screenshot stammt von der Webseite des Verein Gemeinsam Gegen Menschenhandel, denn hier ist Frank Heinrich Vorsitzender und wie zu lesen ist, wird hier für das Interview mit dem Satz „Wollen wir weiterhin als ‚Bordell Europas‘ gelten?“ [2] geworben und von dort zu Pro verlinkt. [3]
Die Überschrift bei Pro lautet allerdings: „Menschenhandel: Wir haben als Christen zu wenig gemeinsame Stimme“. [4]
Mit der Parole „Deutschland als ‚Bordell Europas‘„, das im Interview bei Pro dann doch wieder auftaucht, knüpft Frank Heinrich an ein Narrativ an, das von Swerfs (Sex Work Exclusionary Radical Feminism) [5] und von Gruppierungen/Einzelpersonen verwendet wird, die sich für ein Verbot von Sexarbeit einsetzen. [6] [7]
Das Interview mit Frank Heinrich wurde am 16.10.2020 veröffentlicht. Also mitten in der Pandemie. Diesen Hintergrund bitte im Kopf behalten. Denn in diesem Kontext muss das Interview betrachtet werden.
Das Interview, in dem es um Menschenhandel geht, besteht aus 6 Abschnitten, also 6 Fragen und 6 Antworten.
Auf Frage 1: „Wie ist die aktuelle Lage beim Thema Menschenhandel derzeit in Europa?“ fällt dem evangelikalen Politiker sofort Sexarbeit ein.
Nachdem Coronabedingt ein Prostitutionsverbot ausgesprochen worden war, wären schlagartig alle „in der Prostitution Tätigen mit einem bestimmten nationalen Hintergrund wie vom Erdboden verschwunden“, erklärt der Evangelikale MdB.
Der Theologe und Bundestagsabgeordnete Heinrich, der keine Zahlen, keine Belege, gar nichts liefern kann, sieht in der Abwesenheit von Sexarbeiter*innen während des temporären Verbots, den Beweis von Menschenhandel und will die Gesetzgebung verändern, um die Situation von Betroffenen zu verbessern.
Heinrich, der ein generelles Verbot von Sexarbeit (Antwort auf Frage 4) befürwortet, möchte mit diesem die Situation von Betroffenen, also von Sexarbeiter*innen, verbessern. Mehr sagt er dazu nicht.
Das Geschwätz von Heinrich mag zwar dem Verständnis von Evangelikalen/christlichen Fundis oder dem von Swerfs entsprechen, hat aber mit Logik und Sachversand nicht das Geringste zu tun.
Aber es kommt noch ~Besser~ bei Frage 2: „Wie ist die Lage in Deutschland? Wer ist besonders betroffen?“
Hier vermischt Heinrich im übertragenen Sinn Äpfel, Birnen und Bananen zu einem regelrechten Hottake. Indem er Organhandel, Sex-und Erntearbeit samt Fleischverarbeitung in einem Atemzug nennt. Doch dabei bleibt es nicht.
Er produziert zusätzlich noch anti-asiatischen Rassismus,
indem er auf die Situation in China oder Nepal hinweist, wo sich angeblich Menschen die Haut von Jugendlichen oder Organe übertragen lassen würden, so der MdB der CDU, der wieder keine Zahlen, keine Fakten und keine Belege vorweisen kann, nur Rassismus und den persönlichen Wunsch nach einem generellen Verbot von Sexarbeit.
Dann weist er auf die Ausbeutung von ausländischen Ernte- und Saisonarbeiter*innen hin und auf die, die unter dem Mindestlohn in der Fleischverarbeitung tätig sind. Was das mit Menschenhandel und Sexarbeit zu tun haben soll, erklärt er allerdings nicht.
Er geht auch ebensowenig darauf ein, dass er einer Regierung angehört, die die Arbeitsbedingungen und die Ausbeutung von ausländischen Arbeitskräften erst ermöglicht hat.
So hatten z.B. das Bundesinnenministerium und das Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft am 2. April 2020 für Erntearbeiter*innen ein Konzept beschlossen, dass als „symbolische Beruhigungspille“ bezeichnet worden war und den Erntehelfer*innen keinen Corona-Infektionsschutz bot. [8]
Dass während der Corona-Pandemie Tausende von ausländischen Erntehelfer*innen in Deutschland ausgebeutet wurden, dass bereits im Mai 2020 die Forderungen nach verbesserten Arbeitsbedingungen für Erntehelfer*innen formuliert wurden, [9] erwähnt er ebenfalls nicht.
Dass eingereiste Erntehelfer*innen im Mai 2020 für ihren Lohn in Deutschland, nämlich in Bonn, demonstrierten, erwähnt er auch nicht. Dass sich z.B. vor deren der Müll türmte [10]
und dies die Lebens- und Arbeitsbedingungen von rumänischen Erntehelfer*innen waren, die auf ihren Lohn von mehreren Monaten warteten und das in Deutschland geschah, erwähnt er ebenfalls nicht.
Dass diese rumänischen Saisonarbeiter*innen, die stellvertretend für viele ausländische Erntehelfer*innen stehen und standen, infolge ausstehender Löhne, kein Geld hatten für eine selbstorganisierte Heimreise, erwähnt er auch nicht.
Dass Deutschland von diesen menschenunwürdigen Bedingungen mit vielleicht Strohmenschen und Agent*innen, sowie Briefkastenunternehmen aus dem Ausland, die als angebliche Arbeitgeber zwischengeschaltet sein können, und Deutschland auch davon profitiert, ignoriert der MdB der CDU geflissentlich und deshalb erwähnt er es auch nicht.
Heinrich hat keine Fakten zu bieten, gar nichts, nur der Verweis, dass „Wir“, wer immer das sein mag, häufig von der Kripo und von nicht näher genannten Beratungsstellen hören würden, dass nur wenige Verfahren eingeleitet würden.
Wieder keine Zahlen, wieder keine Belege, wieder keine Fakten, wieder keine Quellen. Gar nichts.
Seinen unfassbaren Äußerungen liegt nicht einmal eine Definition von Menschenhandel zugrunde. Alles was er will ist ein generelles Verbot von Sexarbeit, das dann für alle Sexarbeiter*innen gelten würde, auch für die, die diesen Beruf selbstbestimmt ausüben.
Dass ein generelles Verbot von Sexarbeit keinen Einfluss auf die Arbeitsbedingungen in der Fleischindustrie und keine Verbesserung für Ernte- und Saisonarbeiter*innen haben wird, liegt auf der Hand.
Dass ein generelles Verbot von Sexarbeit in Deutschland keinen Einfluss auf Organhandel irgendwo auf der Welt haben wird, liegt auch auf der Hand.
Dass ein generelles Verbot von Sexarbeit die Situation von Sexarbeiter*innen grundsätzlich erheblich verschlechtern wird, liegt ebenfalls auf der Hand.
Dass ein generelles Verbot von Sexarbeit keinen oder nur einen außerordentlich geringen Einfluss auf Menschenhandel haben wird, ist logisch.
Es ist ein Schlimmes Interview. Für Sexarbeiter*innen. Für Menschen, die als asiatisch gelesen werden, die gerade jetzt, ausgelöst durch die Corona-Pandemie, täglich mehr rassistische Anfeindungen erleben. Für ausländische Erntearbeiter*innen und z.B. für die Beschäftigten bei Tönnies und in anderen fleisch-verarbeitenden Betrieben.
Für mich war es ein Interview, das mich in Anbetracht von so viel Inkompetenz und aussagelosem Geschwafel sprachlos gemacht hat. Deshalb ist dieser Thread jetzt hier auch zu Ende!